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Sprechblablasen

Ich beobachte zwanghaft Menschen. Leider sind die meisten dieser Menschen keine Einzelstücke, sondern werden in Paaren verabreicht. Das verwirrt mich oft. Manchmal bin ich sogar regelrecht angewidert. Das ist ein schönes Angewidertsein. Es bereitet sehr viel Freude, Pärchen zu verurteilen im festen Bewusstsein, dass man selbst nie im Leben so werden könnte.

Neulich habe ich habe ein Phänomen beobachtet, das ich den „Pferdeklaps“ nennen möchte. Vor dem Keksregal im Supermarkt steht ein Teenagermädchen mit einem etwas älteren Typen an der Hand (verdient bestimmt schon selber Geld, hat was Ordentliches gelernt) und nimmt eine Kekspackung nach der anderen in die Hand. „Die sind saulecker“, sagt sie bei jeder, stellt sie wieder zurück, guckt den Typen an und sagt: „Was sollen wir holen, was meinst du?“ Schließlich macht er eine Ansage, sie nimmt die Kekse aus dem Regal, strahlend vor Freude, dass man diese schwierige Aufgabe gemeistert hat (fast erwarte ich, dass sie auf und ab hüpft vor Aufregung) und dass ihr Typ so gut Kekse aussuchen kann. Und wie zur Belohnung küsst er sie kurz und klapst ihr zweimal kurz auf den Arsch. Als wäre sie ein Pferd. „Gutes Mädchen“, ergänzt mein Kopf zynisch. Dann nimmt er ihr die Kekse aus der Hand, dreht sich um und geht zur Kasse.

Sehr verwirrend finde ich auch ein Pärchen, das sich ununterbrochen anfassen muss. Die meiste Zeit verbringen sie damit, Händchen zu halten. Sie halten sogar auf dem Weg vom Wohnzimmer in die Küche Händchen. Wahrscheinlich bringen sie auch zusammen den Müll runter. Meistens sind sie ineinander verknotet und aufeinander fixiert. Sie sehen sich nicht unbedingt an. Das ist das Gute daran, wenn man sich die ganze Zeit anfasst. Man muss sich nicht mehr angucken und versichern, dass der andere da ist. Man muss im Prinzip auch nicht miteinander reden. Wenn man sich die ganze Zeit anfasst, hat man sich schon bewiesen, dass man sich nah ist. Ich frage mich manchmal, was passiert, wenn sie sich nicht anfassen. Lösen sie sich einfach auf? Ein paar Mal war es sehr knapp. Ein paar Mal habe ich gesehen, wie nur ein Teil des Paares angesprochen wurde, dann schälte er sich aus der Umklammerung heraus und versuchte zu antworten. Und während er sprach, fuhr ihre Hand seinen Arm entlang, bis sie im Nacken angekommen war. Dann hatte sie ihn wieder im Griff.

Auf eine ähnliche Weise irritiert hat mich ein Pärchen, dass ich neulich an der Bushaltestelle beobachtet habe. Man konnte sie gut anstarren, sie haben nichts mitgekriegt, da sie die ganze Zeit, während ich dort stand, geknutscht haben. Ich bin allerdings nicht sicher, ob das wirklich Knutschen war, so wie ich es verstehe. Ich glaube, das war was anderes. Man hatte fast den Eindruck, sie langweilten sich dabei. Sie berührten sich nur da, wo es unbedingt notwendig war und es sah auch nicht unbedingt so aus, als hätte das was mit Gefühlen zu tun, sondern eher so, als würden sie zu ihrer Beruhigung an einem Schnuller saugen. Ich stand da fast 5 Minuten und sie machten kein einziges Mal Pause. Busse kamen und fuhren weg und sie sahen nicht mal auf, sondern nuckelten immer weiter. Ich glaube, die wollten nirgendwo hin, nicht allein und nicht zusammen.

Als ich klein war, habe ich mir, wie wahrscheinlich alle Kinder, öfter mal eingebildet, unter meinem Bett wäre ein Monster. In meinem Fall war es kein besonders kreatives Monster – nur ein blau leuchtender, aufrecht gehender Wolf.

Angeblich legen Kinder die Angst vor unsichtbaren Monstern irgendwann ab. Oder es kommt eine Susan, wie bei Terry Pratchett, und verdrischt sie mit dem Schürhaken, damit sie verschwinden. Was aber nicht verschwindet, ist das wiederkehrende Gefühl, dass etwas da ist, was man nicht sehen kann, eine Bedrohung, die man im Augenwinkel zu sehen meint, aber wenn man hinguckt, ist da nichts. Unter dem Bett, hinter der Tür, zwischen zwei Atemzügen.

Gefühle sind natürlich ein unsicheres Gebiet. Sie spiegeln innere Realität, nicht äußere, und das ist ein Problem, wenn einem beigebracht wurde, sich „auf sein Gefühl zu verlassen“. Ich bin der Meinung, an allem ist Antoine de Saint-Exupéry mit seinem Scheiß-Fuchs schuld. Der sagt zum Kleinen Prinzen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“. Ich habe diesen Spruch schon viel zu oft auf Postkarten, in Poesiealben und auf facebook-Pinnwänden gelesen und ich will ihn bitte nie, nie wieder sehen. Bemühungen, „mit dem Herzen zu sehen“, führen dazu, dass man alles Mögliche sieht bzw. fühlt und es für wahr hält. Und das Meiste davon ist eben nur in der inneren Welt „wahr“. Z.B. die Monster unterm Bett. Wenn ich nach meinem Gefühl gehe, dann komme ich zu dem Schluss, dass die Welt voll von Monstern ist, dass überall Bedrohungen lauern, die ich noch nicht sehe.

Im Englischen nennt man so eine diffuse Angst vor einem sich noch nicht zu erkennen gebenden drohenden Unheil „sense of impending doom“.  Es gibt dazu einen großartigen Cartoon von Natalie Dee, den man sich eigentlich gerahmt an die Wand hängen müsste:

Menschen, die diesen „sense of impending doom“ gut kennen, wissen meistens, dass man ihn nicht ernst nehmen darf. So viele Bedrohungen wie Befürchtungen gibt es gar nicht. Es mag ja sein, dass man „ein Gefühl“ hat, aber das heißt meistens noch gar nichts  –  ich hab z.B. ständig irgendwelche Gefühle, aber den meisten davon ist, das tut mir jetzt leid, das so grob zu sagen, sowas von überhaupt nicht zu trauen. Die sind einfach totaler Scheiß. Das Motto zu dieser Erkenntnis stammt übrigens von Radiohead, die in besonders obsessiven Zeiten immer im Bus in mein Ohr singen durften: „Just cause you feel it, that doesn’t mean it’s real„.

Fast jede Frauen- und Mädchenzeitschrift arbeitet sich an dem Thema der Partnersuche ab, wobei es inzwischen weniger um die Suche geht als eher um die Frage: Woher soll ich wissen, ob ich es mit dem Typen aushalte, den ich mir jetzt schon wieder angelacht habe? Es gibt es unzählige Tests mit dem Titel „Ist er der Richtige für mich?“ (z.B. hier in der Teenagerversion und hier in der ‚Erwachsenen‘-Version). Die Frage „Der Richtige WOFÜR?“ wird nicht gestellt und noch weniger beantwortet, das wäre auch ein bisschen viel verlangt, schließlich ist das nicht Raketenwissenschaft und noch viel weniger Philosophie, sondern Lifestyle.

Die verunsicherte Frau (und die Zeitschriften gehen davon aus, dass das ungefähr 100% aller Frauen sind)  kann sich die Entscheidung, die sie eigentlich allein hätte treffen sollen, dann von einem Psychotest abnehmen lassen. Das vorausgesetzte Problem wird in einer eigentümlichen Sex-and-the-City-Schattierung präsentiert, mit der ich ehrlich gesagt nicht viel anfangen kann: „Ob Ihr Lover Ihr Mr. Right ist, erfahren Sie in diesem Test!“ Mr. Right. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Diese Tests gab es schon, als ich noch Mädchen und Bravo Girl und sowas gelesen habe (das war vor ungefähr 17 Jahren) und es gibt sie immer noch. Inzwischen begegnen sie mir eher in Zeitschriften, in denen die Leserinnen gesiezt werden, aber es ist trotzdem das Gleiche.

Dabei ist alles ganz einfach. Meine Schwester und ich haben schon vor Jahren den ultimativen Test für Männer entwickelt (am Telefon, so nebenbei). Drei Minimalkriterien. Wer die erfüllt, kann nicht scheiße sein. Wer sie nicht erfüllt, ist raus.

1. Der Musikgeschmack muss stimmen. Begründe ich jetzt nicht näher, ist in unserer Familie ein extrem wichtiges Kriterium.

2. Er muss Tiere mögen (aber nicht zu sehr natürlich). Begründung: Wer zu Wesen freundlich ist, zu denen man nicht freundlich sein MUSS, kann nicht ganz verkehrt sein.

3. Er muss sich selbst verarschen können.

Sowas kann man natürlich nicht in Frauenzeitschriften drucken, das seh ich ein. Zu wenig Parfümhauch, zu wenig Ersatzpumps in der It-Bag. Total unsexy. Aber dafür muss man dann auch nicht alle drei Wochen einen Test mit dem Titel „Ist er der Richtige?“ machen.

Es gibt Momente, in denen muss man größer sein, als man von sich gewöhnt ist. Da muss man springen. Über den eigenen Schatten, über das emotionale Gepäck, über die liebgewonnenen Eigenheiten. Die Vorstellung, dass man dazu alles, was man ist und hat, zusammennehmen muss, ist ganz verkehrt. Man muss sich vielmehr ganz loslassen, vergessen, dass es so etwas wie Ich gibt und einfach springen.

Das hat viel mit Glauben zu tun. Und ich meine nicht Glauben an einen Gott, an eine Kirche, an Tradition, sondern eher Urvertrauen. Daran zu glauben, dass man einen Platz in der Welt hat und dass man da irgendwie irgendwann schon hinkommen wird, hat nichts mit Logik und Berechnung zu tun und deswegen ist es eigentlich widersinnig und inzwischen, das gebe ich zu, auch völlig anachronistisch. Es ist in den meisten Freundeskreisen okay, daran zu glauben, dass man etwas aus sich selbst machen kann, aber daran zu glauben, dass es schon irgendwie werden wird, sieht von außen ziemlich idiotisch aus. Gegen diese verbreitete Annahme möchte ich die Behauptung stellen, dass es keine Schwäche ist, an so etwas zu glauben, keine Ausflucht, sondern im Gegenteil ziemlich mutig, weil man nicht durch das Netz des gesunden Menschenverstandes abgesichert ist. Aber wer glaubt, kann springen.

Ich bin in meinem Leben mehrfach gesprungen. Es war nie besonders schön und es hatte immer viel mit „Trotzdem“ zu tun. Gegen den Sinn, gegen die Logik, macht man etwas, von dem man nicht weiß, wie es enden wird. Weil man sonst nie größer sein wird als jeder prosaische Tag vom Morgen bis zum Abend lang ist. Und das reicht nicht.

Ich bin der Ansicht, Rationalität ist eine beneidenswerte Eigenschaft. Viele Probleme können relativ einfach gelöst werden, wenn man sie vernünftig betrachtet und in Ruhe abwägt, was zu tun ist.

Es ist schön, wenn man das weiß. Aber es kann sein, dass es überhaupt nichts nützt. Das Drama ist immer stärker als der rationale Entwurf. Dramatisieren ist eine aktive Tätigkeit, eine Sinngebungsstrategie, die von der Grundannahme ausgeht, dass alles ganz schlimm ist, aber noch schlimmer werden kann.

Drama ist ansteckend. Wenn auch nur ein Gedanke infiziert wurde, dann verliert auch alles, was an diesen Gedanken angrenzt, seine Proportion. Ein Beispiel: Ich habe verschlafen, was bedeutet, dass ich zu spät zur Arbeit komme. Der Grund für mein Verschlafen ist, dass ich am Tag davor zu lange weg war, was ich nicht hätte tun sollen. Ich hätte diszipliniert sein müssen und das war ich nicht. Weil ich NIE so diszipliniert sein kann, wie ich mir vornehme, und mich nicht auf die wichtigen Dinge konzentriere, sondern IMMER Trost und Ablenkung bei anderen Leuten suchen muss, mit denen ich dann viel zu lange sitze und trinke und über unwichtige Dinge spreche.  Ich bin so furchtbar undiszipliniert. So werd ich das nie schaffen. Jetzt bin ich so gestresst, dass ich eine Zigarette rauchen muss. Ich rauche viel zu viel. Bestimmt habe ich schon Lungenkrebs und weiß es noch nicht. Oh mein Gott, ich werde sterben!

Ja, ihr lacht. Aber so schnell kann man von der bloßen Tatsache, dass man zu spät kommt, zu einer umfassenden Selbstanklage gelangen. So funktioniert Drama. Und man hat den ganzen Tag was davon. Wer keinen Fernseher hat und sich langweilt, dem sei das Drama als alltagshermeneutisches Verfahren sehr ans Herz gelegt. Es ist nicht zu leugnen, dass das eigene Leben dadurch bunter und aufregender wird. Großes Leid, großes Elend, das Leben als schicksalhafte Geschichte, deren Held oder Heldin man ist. Es ist allerdings auch nicht zu leugnen, dass Drama alles, was an der Realität gut sein kann, einfach kaputtschießt.

Eines Morgens stieg ich in den Bus ein und es waren alle Plätze besetzt. Nur ganz hinten ragte von einem Zweiersitz nur ein einzelner Kopf auf, mit dem Rücken in Fahrtrichtung, so dass man hinten aus dem Bus rausgucken kann. Ich kämpfte mich durch die nassgeregneten und dick eingepackten Menschen, erreichte den Platz und setzte mich energisch hin. Aber irgendetwas stimmte nicht. Ich passte da nicht mehr hin, da war nicht genug Platz für mich, obwohl noch ein Sitz frei war. Ich sah nach rechts zu der Frau, die neben mir saß. Sie guckte aus dem Fenster, ohne etwas Bestimmtes anzuschauen, sie guckte nicht zu mir. Sie war unfassbar dick. Mein Oberschenkel presste sich an ihren, ich saß fast auf ihrem Schoß. Ich konnte spüren, wie sie atmete und ich dachte: Ich will nicht so nah an jemandem dran sein. Aber ich wollte nicht wieder aufstehen, das wäre gewesen, als hätte ich die Nase gerümpft und laut gesagt: Meine Güte, Sie sind so dick, neben Ihnen kann man nicht sitzen! Also blieb ich sitzen und spürte,wie die Frau rechts neben mir atmete und sich die Armlehne links in meine Hüfte bohrte.

Zwei Haltestellen später stiegen viele Leute aus, es wurden Plätze frei. Ich setzte mich unauffällig um und schämte mich dabei. Die dicke Frau saß mir nun schräg gegenüber. Sie guckte aus dem Fenster. Sie war jung, vielleicht hätte man sie sogar als Mädchen bezeichnen können. Sie trug ein Kopftuch und einen langen Mantel. Ihr Gesicht hatte keinerlei Ausdruck. Sie guckte starr aus dem Fenster.

An jeder Haltestelle stiegen mehr Leute ein und es wurde wieder voll im Bus. Alle Plätze waren wieder besetzt, außer dem Platz neben der dicken Frau. Während einer Fahrt von 15 Minuten versuchten drei Menschen, sich neben sie  zu setzen und standen sofort wieder auf. Einer verzog schmerzlich das Gesicht, eine lachte und ein dritter starrte die Frau verblüfft an und schüttelte mit dem Kopf. Und sie guckte aus dem Fenster. Passiert ihr sowas jeden Tag? Ich bin sicher, dass sie das Lachen gehört und das Kopfschütteln gesehen hat, aber sie guckte aus dem Fenster und verzog keine Miene.

Letzte Nacht (oder vielmehr heute Morgen) wurde ich vom Brummen meines Telefons geweckt. Als ich verstanden hatte, was ich da höre, war es zu spät. Aber dann wollte ich wissen, warum ich angerufen wurde und ich fing an, Möglichkeiten durchzugehen:

a) Anrufer war total betrunken, wollte jemand anderen anrufen und hats nicht mehr hingekriegt

b) Anrufer wurde spontan von seinen Gefühlen überwältigt (positiv oder negativ) und wollte mir diese mitteilen (Alkoholeinfluss relativ wahrscheinlich)

c) das Telefon von Anrufer wurde von Außerirdischen, Geheimagenten oder dem Bundesverfassungsschutz präpariert und kann von denen fernbedient werden. Was nicht erklärt, warum es mich anruft, aber egal

d) Jemand benutzt das Telefon von Anrufer, um mir zu sagen, dass dieser gerade zusammengebrochen ist und ins Krankenhaus gebracht wird

e) Jemand benutzt das Telefon von Anrufer, um mir zu sagen, dass dieser gerade zusammengebrochen ist und mich zu fragen, welches Mittel am Besten hilft um ihn wieder auf die Beine zu kriegen

f) Anrufer befindet sich mitten in einer Wette, wer durch einen Anruf am Samstag um halb sieben Uhr morgens die dreckigeren Fluchtiraden erntet

g) Anrufer wurde entführt und die Entführer benutzen sein Telefon um von mir Lösegeld zu fordern, sind aber selber in den frühen Morgenstunden so fertig, dass sie es sich anders überlegen und lieber später noch mal anrufen wollen

h) das Telefon von Anrufer ist aus der Tasche gefallen und liegt auf der Straße, dann fährt ein Auto drüber und löst das Wählen meiner Nummer aus

i) Anrufer ist auf die Straße gefallen, ein Auto fährt über ihn drüber und löst das Wählen meiner Nummer aus

An diesem Punkt wurde es selbst für mein strapazierfähiges Gehirn etwas unrealistisch. Ich erinnerte mich daran, dass ich bekloppt bin und nicht gut damit umgehen kann, wenn ich etwas nicht weiß, weil ich mir dann immer alles vorstelle, was ich mir vorstellen kann.  Nachdem ich das mit mir geklärt hatte, konnte ich auch einfach wieder schlafen gehen.

P.S.: Die tatsächliche Erklärung für den mysteriösen Anruf ist nicht mal halb so gut wie die langweiligste meiner Vorstellungen. Die Welt muss langweilig sein, wenn man keinen an der Klatsche hat.

An meiner Haltestelle sitzt öfter ein interessanter Mensch. Er hat nichts bei sich als eine Plastiktüte und trägt immer das Gleiche: Strahlendweiße Schuhe, schwarze zu kurze Hosen, die feine schwarze Socken entblößen, einen knallblauen Pullover und eine schwarze Lederjacke. Mehrere silberne Ketten und Armbänder, einen Ehering. Sein Gesicht sieht aus wie man sich einen angealterten schwulen Varietékünstler aus den Zwanziger Jahren vorstellt, mit aufgeworfenen Lippen und kaum vorhandenem Kinn. Seine Augen sind weich und immer halb geschlossen. Haare hat er nicht mehr viele.

Seine Plastiktüte ist wichtig. Manchmal entleert er sie vorsichtig auf der Haltestellenbank, um sie dann vorsichtig auszuschütteln, zu reinigen und wieder zu füllen. In der Tüte sind ausschließlich Dinge, die man zum Rauchen braucht: leere Zigarettenhülsen, Blättchen, mehrere Tabakpäckchen, Streichhölzer, Feuerzeuge. Und er raucht unablässig, egal, welche Form das hat, was er sich in den Mund steckt und anzündet. Manchmal ist es eine richtige Zigarette, manchmal sieht es aus wie ein papierner Schlafsack, manchmal hebt er auch Kippen auf und zündet sie nochmal an.

Sobald er den letzten Rauch ausgeatmet hat, kramt er schon nach dem nächsten rauchbaren Gegenstand in seiner Tüte. Als müsste er verschwinden, wenn er einen Moment lang nicht raucht. Wie die Grauen Herren in Michael Endes „Momo“, die sich auflösen, sobald ihre Zigarren aus gestohlener Zeit ausgehen. Der Raucher an meiner Haltestelle muss keine Zeit stehlen, er hat genug davon – Tage und Wochen und Jahre. In dieser Zeit muss er sich mit etwas beschäftigen, er muss etwas sein. Also ist er Raucher und das mit einer derart erbitterten Ernsthaftigkeit, dass ich mich jedes Mal, wenn ich ihn sehe, kurz frage, ob er sich nicht vielleicht tatsächlich auflöst, wenn er nur eine Sekunde lang keine brennende Zigarette zwischen den Lippen hat.

Du bist immer davon ausgegangen, dass es eine Tugend ist, nicht von vornherein von sich überzeugt zu sein, sondern an sich zweifeln und sich hinterfragen zu können. Du hast gedacht, um weiterzukommen, muss man sich selbst Druck machen und diesen Druck zusätzlich zum Außendruck ertragen können. Du warst überzeugt davon, dass Erfolg unumgänglich mit einer gewissen Selbstausbeutung einhergehen muss.

Jetzt bist du plötzlich nicht mehr so sicher.

Denn wenn man schneller rennt, wird der Weg nicht kürzer. Du kannst alles erreichen, aber für wen?  Wieviel besser, größer, stärker, klüger und schöner musst du noch werden? Whatever you do, it’s never enough.

Wir müssen alle mal kurz anhalten und uns eine Runde selbst gutfinden. Mach langsam, Mädchen. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen. Es gibt viel zu tun und weit zu gehen, aber es wäre schön, wenn am Ende des Weges noch was von dir übrig wäre, was sich über das Angekommensein freuen kann.

Ich bin ohnehin nicht besonders menschenfreundlich (das heißt, bestimmte Menschen sind schon okay, besonders, wenn sie tendenziell so sind wie ich, aber im Grunde genommen bin ich froh, wenn sie ihr Menschsein allein auf die Reihe kriegen und mich damit in Ruhe lassen), aber wenn sich Menschen zu Paaren zusammentun, sich mit all ihren Schwächen gegen den Rest der Welt verbünden und auch noch die Unverschämtheit besitzen, ihre Paarhaftigkeit vor sich herzutragen, als sei sie ein Verdienst, dann setze ich meine Geheimwaffe ein, die leider nicht im Mindesten vernichtend ist: Ich MISSBILLIGE!

Heute sah ich mich z.B. gezwungen zu missbilligen:

(1) Ein ungefähr 15-jähriges Mädchen, das sich schmachtend von ihrem Liebsten verabschiedet, weil er zur Arbeit muss und sie zur Schule, und sie sich erst abends wiedersehen werden, was anscheinend kaum zu ertragen ist. Nachdem sie sich voneinander losgerissen haben, brüllt sie dem Typen quer über die Straße nach: „Isch liebe disch, mein Mausebär!“

(2) Ein knutschendes Pärchen im Bus, das es fertig bringt, einfach ALLEN im Weg zu stehen: Denen, die einsteigen wollen. Denen, die aussteigen wollen. Denen, die sich hinsetzen wollen. Sogar mir, die ich gar nichts will außer sitzen bleiben und transportiert werden, stehen sie im Weg, sie hängen aneinander und knutschen und kichern und wollen gar nicht mehr aufhören, völlig verloren in den vanilleparfümduftenden Wolken der Teenie-Verliebtheit.

(3) Einen riesengroßen massigen Kerl an der Haltestelle, der seine winzigkleine Freundin im Arm hält und ihr immer wieder übers Haar streicht, minutenlang, immer die gleiche Bewegung, als sei sie eine Puppe. Dabei sieht er über ihren kleinen Kopf hinweg hinauf zu den Fenstern des Fitnessstudios.

Mir ist bekannt, dass man sowas theoretisch süß finden kann oder zumindest verzeihlich. Leider ist mir dieser Ansatz immer ein Rätsel geblieben. Und es hätte ja auch niemand was davon. Ich berufe mich auf mein Missbilligungsrecht. Auf mein Recht, etwas von Herzen scheiße zu finden und wie Klaus Kinski selbstherrlich zu keifen: „Bin ich denn hier nur von IDIOTEN umgeben?!“